Die Stunde da wir nichts voneinander wussten
Schauspiel von Peter Handke
Premiere: 20. Mai 2023
Theater Ansbach
Regie: Jan Holtappels
Bühne: Sophia Debus
Kostüme: Sophia Debus, Vera Goth
Figurenbau: Sabine Effmert
Mit: Elisabeth Göppner, Andrea Greul, Nicole Schneider, Sophie Weikert, Anna Woll, Lukas Aue, Lukas Dittmer, Frank Siebenschuh, Anett Ballenthin, Annalena Fischer, Belinda Gaisser, Jutta Mack, Brigitte Riemann, Johannes Barth, Moritz Linz, Alexander Schumann
Fotos: Jim Albright
„Sie ist ein lebenspraller Theaterabend, ein Ereignis, ein Wunderstück geworden: Jan Holtappels bildmächtige Inszenierung von Peter Handkes „Die Stunde da wir nichts voneinander wussten“. (FLZ 25.05.23)
"Der richtige Platz für ein Theaterwunder
Jan Holtappels inszeniert in Ansbach ein legendäres Stück von Peter Handke:
„Die Stunde da wir nichts voneinander wussten“ – Das Ergebnis ist großartig.
Ein Traumspiel, gemacht aus Licht und Luft und Stoff und Menschen. Ein kaleidoskopisches Lebenspanorama.
Ein Wunderstück ist das, was jetzt am Theater Ansbach zu sehen ist. Es reicht dort hin, wo die Sprache aufhört oder wo sie gerade anfängt. Es ist zum Niederknien schön, zum Seufzen traurig und zum Lachen lustig. (…)
Jan Holtappels, der Regisseur, hält sich nicht penibel an Handkes Spielvorlage, die nichts anderes als eine riesige Regieanweisung ist, ein Gesellschaftsmosaik aus Beobachtungen und Einfällen, eine Bilderflut, in der Gegenwart und Geschichte ineinander wirbeln – was die „Stunde“ gerade für die YouTube-Insta-TikTok-Gegenwart passgenau anschlussfähig werden lässt.
Jan Holtappels nutzt diese Chance. Er holt den über dreißig Jahre alten Text in die Gegenwart, nimmt sich Anleihen vom Tanztheater, vom Zirkus und der Popkultur, erfindet neue Figuren und Geschichten dazu, ohne Handkes mythologische Tiefe, die bis zu Moses hinabreicht, zu übersehen. Und er findet großartige, witzige, anrührende, hoch expressive szenische Metaphern für die drängenden Dauerthemen der Zeit.
Wer will, entdeckt die Klima-Kleber, den Gender-Diskurs, die Probleme der Energiewende, sieht Flüchtende und Kriegstreiber und noch viel mehr. (…)
Diese „Stunde“ weiß mehr, als ihr Ur-Text. Sie hat sich mit Gegenwart vollgesaugt. Das Allgemeinmenschliche kommt nicht zu kurz. Glaube, Hoffnung, Liebe, Krankheit, Altern, Sterben und Tod. Und, und, und. Wie Menschen einander begegnen und sich verfehlen, auch das erzählt die „Stunde“. Ein ganzer Beziehungskatalog blättert sich auf – und ein Katalog der Alltagsgeräusche und von Klängen, von denen man nicht wusste, dass es sie gibt.
Das alles in gut 100 Minuten gepackt. Viel Gewicht zu tragen? Bleierne Langweile? Nichts davon. Alles kommt geschmeidig daher, ist immer im Fluss, nie hektisch, sondern konzentriert, atmend, gespannt, noch in der Ruhe. (…)
Nebenbei reflektiert Holtappels, wodurch Handke seit der Uraufführung der „Stunde“ besonders aufgefallen ist – Stichwort: Serbien-Kontroverse und Nobelpreis. Handke scheint mitzuspielen. Der Herr des Platzes und des Geschehens hat viel von ihm, ein Begleiter, Zuseher, Autor, aber auch ein mystischer Seelenführer, ein Weltverzauberer."
Thomas Wirth, FLZ, 22.05.2023